Andacht zur Jahreslosung 2023

von Gemeinde Kaldauen

28.11.2022

"Du bist ein Gott, der mich sieht." (1.Mose 16,13)


Eine Fortbildungswoche mit Erzieher*innen: An einem Tag geht es um einen Psalm aus der Bibel. „HERR, du erforschst mich und kennst mich. Du verstehst meine Gedanken von ferne.  Du siehst alle meine Wege…Kein Wort ist auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüßtest.“ (Psalm 139)

Die Teilnehmer*innen haben eine Szene entworfen. Als Zuschauer kann ich zunächst nur hektische Betriebsamkeit erkennen. Alle laufen durcheinander. Dann bleiben einige unvermittelt stehen, setzen sich kurz, um gleich wieder aufzustehen und weiter zu rennen. Eine Darstellerin thront hoch über der Szene auf einem Stuhl, den sie auf einen Tisch gestellt hat. Mit strengem Blick beobachtet sie das Durcheinander zu ihren Füßen. Dann erhebt sie sich und beginnt zu gestikulieren. Sie zeigt auf einige, droht ihnen, gibt stumme Anweisungen und setzt sich erst wieder hin, als man ihre Befehle befolgt.

Nicht schwer zu erraten, was da gespielt wird: „Gott und die Welt“, so wie die Teilnehmer*innen diesen Psalm verstehen. Da thront Gott über den Menschen. Er sieht und kontrolliert alles. Er ruft zur Räson, weist in die Schranken, droht und bestraft. „Gott sieht alles!“ Und: „Kleine Sünden bestraft er sofort!“ – Aber das soll der Gott der Bibel sein?

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ (1. Mose 16,13) Die Jahreslosung für 2023 kann man auch so missverstehen. Dann ist Gott ein Aufpasser, der unsichtbare Wächter über unser Leben. Zwar bestraft er kleine Sünden gar nicht immer sofort. Aber er führt genau Buch! Und eines Tages präsentiert er uns die Liste all unserer Fehler, die lange Anklageschrift unserer Sünden. Und dann folgt unweigerlich – das vernichtende Urteil!

„Schwarze Pädagogik“, so hat man es bezeichnet, wenn Kinder mit dem Bild eines strafenden, allwissenden Gottes erzogen wurden. Die Auswirkungen hat der Psychoanalytiker Tilman Moser „Gottesvergiftung“ genannt. Wenn Menschen im Glauben aufwachsen, dass Gott wie ein Wärter ist, muß ihnen das Leben wie ein Gefängnis erscheinen. Aus so einem Glauben kann man nur ausbrechen! Von so einem Gott muss man sich losreißen, wenn man glücklich und frei leben will.

Die Jahreslosung spricht von einem anderen Gott. „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ sagt Hagar, eine Magd in Abrahams und Saras Diensten. Ihr Problem ist nicht die unbarmherzige Gegenwart eines strafenden Gottes, sondern seine Abwesenheit. Hagar glaubt sich von Gott und den Menschen verlassen! Was ist ihr geschehen?

Gott hat Abraham und Sara Nachkommen versprochen. Sie warten seit langem vergeblich. Da will Sara der Verheißung Gottes auf die Sprünge helfen. Sie schickt Abraham zu ihrer Magd, damit er mit ihr ein Kind zeugt. Hagar wird tatsächlich schwanger. Man könnte sie eine „Leihmutter“ nennen. Aber Menschen sind keine Maschinen. Wenn ein Kind in ihnen heranreift, stellen sich auch Gefühle ein. Es kann sein, dass Hagar nun auf ihre Herrin herabschaut. Sie hat etwas, was Sara verwehrt blieb. Darum muss Hagar weg, beschließt Sara. Und Abraham willigt ein: „Mach mit ihr, was du willst!“ So wird Hagars Leben zur Hölle. Sie flieht in die Wüste. An einem Brunnen sinkt sie zu Boden. Das Titelbild zeigt sie in diesem Moment: Verzweifelt schlägt Hagar die Hände vors Gesicht.

Da, im tiefsten Moment ihrer Verzweiflung hört sie eine Stimme. Die fragt sie nach dem Grund ihrer Flucht. Dann redet sie ihr zu: „Geh zurück! Denn Du wirst einen Sohn zur Welt bringen, der wird mächtig und stark sein.“ Hagar begreift: Ein Engel, ein Bote Gottes sagt das zu ihr. Gott hat sie nicht vergessen! Die verzweifelte Magd auf der Flucht in der Wüste ist angesehen von Gott! So bekommt sie Kraft, den Verhältnissen standzuhalten und ihren Sohn zur Welt zu bringen. Der wird Ismael heißen und zum Stammvater vieler Völker werden wird.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ sagt Hagar jetzt. Als sie nicht ein noch aus wusste, war Gott ihr ganz nah. Er hat ihre Tränen gesehen, ihre Klage gehört. Er gibt ihr jetzt neue Kraft. Nicht alles wird damit schlagartig gut. Neue Krisen werden kommen. Aber Gott bleibt die Quelle ihrer Kraft. Und dem Brunnen, an dem der Engel sie fand, gibt Hagar den Namen: „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht!“

Ein neues Jahr beginnt. Wird es leicht, wird es schwer? Wir können nicht wissen, was wir am Ende über dieses Jahr sagen werden. Aber über diesem Jahr steht der Satz: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Wenn wir ihn mit Hagar mitsprechen, wird sich zeigen, welche Kraft in diesem Glauben steckt.

Es grüßt Sie herzlich

Ihr Pfarrer Martin Kutzschbach